Ich hatte vor kurzem das Vergnügen, eine junge Frau kennen zu lernen, die mich sehr beeindruckt hat. Ihr Name ist Sahar (Name geändert). Sahar ist selbstbewusst, wissbegierig und besitzt eine unglaublich positive Ausstrahlung. Das alles mag für sich noch nicht besonders bemerkenswert sein, wird es jedoch, wenn man bedenkt, dass Sahar aus Syrien stammt – genauer gesagt aus Aleppo.

Sahar wurde mit Krieg und Tod konfrontiert. Sie musste einen Teil ihrer Familie zurücklassen. Sie musste ihrer Heimat den Rücken kehren. Seit etwas mehr als einem Jahr lebt Sahar in Deutschland. Kam wie so viele andere, die dem furchtbaren Krieg in Syrien entflohen, über die Balkanroute in unser Land.

Per Zufall lernten wir uns in meiner Firma kennen, wo sie ein freiwilliges Praktikum absolvierte. Und vom ersten Moment an beeindruckte sie mich sehr. Sahar spricht hervorragend Deutsch und das obwohl sie erst vor einem Jahr begann, sich unsere Sprache selbst beizubringen.

Ich möchte dir heute ihre Geschichte erzählen. Eine Geschichte, die mich zutiefst berührt, schockiert, nachdenklich gemacht und beeindruckt hat. Eine Geschichte, die es verdient hat, erzählt zu werden.

Leben in Aleppo

Sahar wuchs in Aleppo auf. Machte dort 2009 ihr Abitur und begann dann Maschinenbau zu studieren. Ihr Leben war gut. Und dann kam der Krieg. 2012 erreichte er Aleppo, ihre Heimatstadt.

Doch sie blieb. Lebte fortan in Angst. Trotzdem studierte sie weiter. Am anderen Ende der Stadt tobten die Kämpfe zwischen den Rebellen und Assads Truppen. Eines Tages, erzählte sie mir, saß sie an ihrer Uni an einem Test, als plötzlich ein Flugzeug tief über die Uni flog und eine Bombe abwarf. Sie ließen alles stehen und liegen, versteckten sich im Keller. Für mich ein unvorstellbares Szenario. Doch Sahar – allen Widrigkeiten zum Trotz – studierte auch danach weiter. Sie arrangierte sich mit diesem Leben, so gut es eben ging. 25 Studenten starben während dieser Monate und Jahre. Sahar schloss ihr Studium ab.

Rund 3 Jahre lang lebte oder vielmehr überlebte sie dieses Leben. Sie zeigt mir ein Foto mit einem Handteller großen Geschoss, das einst in ihrer Wohnung einschlug. 2015 dann wird die Situation während des Ramadans noch schlimmer. Seit 3 Monaten kein Strom, nicht mal Wasser. Und in ihrer eigenen Wohnung kann sie am Abend nicht die Küche betreten oder nutzen, weil diese zur Straße heraus liegt und es einfach zu gefährlich ist.

Die Koffer mit ihren wichtigsten Sachen stehen immer parat, um jederzeit aufbrechen zu können – und das bereits seit 2012. Zu diesem Zeitpunkt beschließt Sahar, dass es so nicht weiter geht, dass sie ihr Land verlassen muss. Doch ihr Vater hält zunächst wenig von dieser Idee. Er war schon immer sehr konservativ, möchte bleiben. Nicht zuletzt auch wegen seinem kranken Bein, mit dem er nicht mehr gut laufen kann. Seine Frau und seine Töchter – Sahar hat noch 3 Schwestern – allein gehen zu lassen, kommt für ihn nicht in Frage. Doch eine Perspektive gibt es in Aleppo nicht. Das muss auch er bald einsehen. Firmen, in denen Sahar arbeiten könnte, gab es schon lange nicht mehr. Zumindest nicht in der Form, wie sie es sich vorstellte. Natürlich gab es Kriegsindustrie. Doch so wollte Sahar ihr Leben nicht führen.

Sie beschloss, nach Frankreich zu fliehen. So zumindest ihr erster Gedanke. Doch nach ein wenig Recherche und Rücksprache mit Bekannten in Deutschland verwirft sie diesen Gedanken wieder. Zu schwierig scheint das Leben für muslimische Frauen in Frankreich zu sein. Doch in Deutschland sei die Situation eine andere, bessere. Und so wird schnell die Bundesrepublik ihr gedankliches Ziel.

Sie setzt sich schließlich durch, überzeugt ihren Vater und flieht schließlich am 01. September 2015 zusammen mit ihrer Mutter und ihrer jüngsten Schwester, die gerade ihr Abitur gemacht hatte, aus Aleppo.

Aleppo vor und nach dem Krieg

Aleppo vor und nach dem Krieg | â’¸ olympia.gr

Die Flucht

Mit 2 Koffern geht es per Bus über den Libanon in die Türkei. Nach 3 Tagen Fahrt kommen sie in der Türkei an, erfahren dort aber alles andere als Hilfe. Niemand redet mit ihr. Die Türken können oder wollen kein Englisch sprechen. Schließlich bekommt sie Kontakt zu einem Kurden, einem Schmuggler. Er verspricht, sie mit einem Boot nach Griechenland überzusetzen. Doch ganz so schnell geht es nicht. Zusammen mit rund 150 anderen Flüchtlingen verbringt sie 10 Tage lang in einem Wald, wo sie sich vor der Polizei verstecken. Kaum Essen. Kein Zelt. Kein nichts. Zudem muss sie 1.500 USD pro Person für die Überfahrt zahlen – fast 50% der gesamten Ersparnisse ihrer Mutter, einer ehemaligen Grundschullehrerin, deren wichtigstes Gut ihre beiden Hörgeräte sind. Denn ohne ist sie quasi taub.

Dann endlich geht es los, die Ãœberfahrt zur griechischen Insel Lesbos. In einem einfachen Schlauchboot, das etwa 2 Meter breit und 4-5 Meter lang ist. Zusammen mit rund 50 Kurden. Nur Sahar, ihre Mutter und ihre Schwester sind arabischer Abstammung.

Es beginnt, der schlimmste Abschnitt ihrer Flucht. Ein Abschnitt, den Sahar ihr Leben lang nicht vergessen wird und der mich beim Hören ihrer Geschichte zutiefst schockiert hat.

Eigentlich dauert die Überfahrt nur rund 20 Minuten. Für Sahar werden es die längsten 90 Minuten ihres Lebens. Denn schon kurz nach dem Ablegen – Sahar sitzt mit ihrer Schwester zusammen eng gedrängt auf dem Rand des Schlauchboots, ihre Mutter sitzt vor den beiden – entdeckt ein türkisches Polizeiboot das Flüchtlingsboot. Doch anstatt die Flüchtlinge aufzuhalten oder zurückzubringen, haben es die Polizisten auf etwas ganz anderes abgesehen. Sie fahren immer wieder möglichst dicht an das Schlauchboot heran. Versuchen, es durch die verursachten Wellen zum Kentern zu bringen!

An Bord ein Familienvater, der schon 14 Mal diese Ãœberfahrt versucht hat und ein schreiendes Baby. Mitgefühl und Erbarmen seitens der türkischen Polizei – Fehlanzeige. Vermutlich wird Sahar und ihrer Familie vor allem die Tatsache zum Verhängnis, dass fast alle Flüchtlinge an Bord Kurden sind. Wasser schwappt immer wieder ins Bord. Immer wieder wippt es gefährlich, droht zu kentern. Schreie. Flehen. Doch der übermächtige Angreifer lässt nicht nach.

In meinen Augen ist das ein Mordversuch. Es ist das Schlimmste und Unvorstellbarste, was es in einer solchen Situation wohl geben kann. Denn wenn das Boot kentert, haben die Flüchtlinge kaum eine Überlebenschance. Die Hörgeräte der Mutter hat Sahar fest mit den Händen umschlossen. Sie hat Todesangst. Schreit. Macht auf das Kind im Boot aufmerksam. Erbarmen? Nein. Stattdessen versuchen die Polizisten auf dem anderen Boot mit einem Dreizack das Schlauchboot zu zerstechen. Es gelingt ihnen, 3 Löcher ins Boot zu bekommen. Die Flüchtlinge pressen ihre Hände auf die Löcher und versuchen das Unvermeidliche zu verhindern. Da endlich lassen die Türken von dem Boot ab. Von griechischer Seite nähert sich ein zweitens Boot, ein UNICEF Boot. Das rettet ihnen vermutlich das Leben.

Es gelingt ihnen schließlich, auf Lesbos zu landen, den Hafen Mytilini zu erreichen. Sie leben. Im Gepäck einen Rucksack mit all ihrem Gepäck – die Koffer mussten sie in der Türkei zurücklassen, einem Land, das Sahar nie wieder betreten möchte. Denn dieses Erlebnis auf dem Meer, dem Tode so nah, war das Schlimmste, was sie je erlebt hatte. Die Hörgeräte ihrer Mutter haben es ebenfalls geschafft. Sie waren endlich in Europa. Fast.

Denn noch waren sie nicht auf dem Festland und einfach wurde es auch hier nicht. Ein großes Auffangzelt der UNICEF mit Tausenden Menschen. Wenig Hygiene. Kaum Platz. Sahar und ihre Familie ziehen es vor, außerhalb des Zeltes ihre Sachen zum Trocknen auszubreiten. Mit einem Handy und einer SIM Karte, die sie in der Türkei organisiert hatte, kann sie immerhin ihrem Vater ein Lebenszeichen senden. Ihm mitteilen, dass sie die schwerste Etappe überstanden hatten.

Hier auf der Insel vor Griechenland braucht sie nun Papiere. Unterlagen, die bestätigen, dass sie innerhalb von 10 Tagen Griechenland verlassen werden. Nur dann hat sie die Chance, mit der Fähre nach Athen weiterzureisen. Doch sie hat Glück. Völlig überraschend bekommt sie diese Unterlagen schon am nächsten Tag. Geschlafen hat sie kaum. Zu groß ist die Angst, bestohlen zu werden. Ihr Pass, Ihr letztes Hab und Gut, schließlich die wertvollen Unterlagen, die ihr und ihrer Familie zusammen mit 150 Euro pro Person die Überfahrt nach Athen ermöglichen – viel mehr bleibt den drei syrischen Frauen, die allein unterwegs sind, nicht.

Auf dem Festland angekommen, bietet ihr ein irakischer Taxifahrer an, sie in die Stadt zu bringen. Sie lehnt ab. Sahar traut schon lange niemanden mehr. Zu diesem Zeitpunkt und ohne männliche Begleitung schon gar nicht. Wenn sie jemand fragt, wo ihr Mann oder ihr Vater sei, zeigt sie in die Menge und sagt: „Dort, er kommt gleich wieder.“ Sich anmerken zu lassen, dass sie mit ihrer Schwester und ihrer Mutter allein unterwegs ist – ein NoGo. Sahar fühlt sich verantwortlich. Und dieser Verantwortung wird sie gerecht. Jederzeit. Sie laufen. Nach all den Strapazen. Es geht irgendwie.

In Athen angekommen, bleiben sie nicht lang. Mit dem Bus geht es weiter an die Grenze nach Mazedonien. Von hieraus per Fuß weiter entlang der Grenze Richtung Serbien.

Am 13. September erreichen sie die ungarische Grenze. Seit rund 2 Wochen ohne etwas zu essen. Journalisten, denen sie unterwegs begegnet sind, boten Hilfe an. Decken. Etwas zu essen. Ersteres nehmen sie gern an, denn es ist kalt. Vor allem nachts. Zweiteres lehnen sie trotz Hungers ab. Denn es gibt keine Toiletten unterwegs. Etwas Wasser, gern. Der Rest ist Laufen und Durchhalten.

An der Grenze zu Ungarn heißt es normalerweise erneut Warten. Warten auf Unterlagen. Hoffen, dass die Grenze für kurze Zeit geöffnet wird. Und erneut hat Sahar Glück. Großes Glück. Dank UNICEF soll die Grenze noch einmal einen ganzen Tag geöffnet werden, bevor sie sich vermutlich für längere Zeit schließt. Und genau in diesem Zeitfenster treffen die drei syrischen Frauen dort ein.

Wenige Stunden später erreichen sie Budapest, wo sie für einige Stunden in einem Zelt unterkommen. Per Bus & Zug geht es weiter an die Grenze von Österreich.

Am 14. September trifft Sahar müde und ausgelaugt etwa 30 Kilometer von Wien entfernt auf einen freundlichen, deutschen Taxifahrer, der ihr anbietet, sie und ihre Familie nach Wien zu bringen. Entgegen ihren bisherigen Vorsätzen und mit dicken Augenringen nimmt sie das Angebot an. Seit langer Zeit ist es das erste Mal, dass sie jemanden anderes als sich selbst vertraut. Unter anderen Umständen und mit mehr Kraft wäre sie wahrscheinlich eher gelaufen. Doch sie haben erneut Glück. Der Taxifahrer meint es wirklich gut mit den drei syrischen Frauen. Er fährt sie bis in die österreichische Hauptstadt und organisiert ihnen sogar noch ein einfaches Hotel. Endlich wieder Zivilisation. Endlich wieder Duschen. Schlafen. Eine wirklich lange und anstrengende Reise nähert sich einem Happy End.

Am nächsten Tag organisiert Sahar Zugtickets für den ICE nach Stuttgart, denn sie möchte unbedingt nach Baden-Württemberg. Doch an der Grenze zu Deutschland, in Passau, hält der Zug. Polizisten und Grenzbeamte steigen zu. Gehen durch die Abteile. Alle Flüchtlinge müssen aussteigen. Hintergrund ist die Registrierung und Verteilung der Flüchtlinge auf verschiedene deutsche Städte. Mitbestimmung, wohin es geht, ausgeschlossen. Als der Grenzbeamte vor Sahar und ihrer Familie steht, schaut er sie an. Sie schaut zurück. Und wenn ich Sahar so ansehe, während sie mir ihre Geschichte erzählt, ahne ich, was der Beamte in ihr gesehen hat. Denn das Unwahrscheinliche passiert. Er nickt und lässt sie weiterfahren. Alle anderen Flüchtlinge müssen aus dem Zug. Die 3 syrischen Frauen jedoch fahren weiter nach Stuttgart.

Ankunft in Deutschland

Dort steigen sie aus. Wenden sich an die Polizei und bitten um Hilfe. Die Flucht nach Deutschland gelingt. Sahar, ihre Schwester und ihre Mutter haben es geschafft. Sie sind dem Krieg im eigenen Land entkommen. Haben ihre Heimat verlassen. Haben eine Reise und widrigste Umstände nicht nur überstanden, sondern vor allem auch überlebt. Sind dem grausamen Verhalten der türkischen Polizei entronnen. Haben mit Glück, aber auch Kraft, Zuversicht und unbändigem Willen ihr Ziel umgesetzt, um in Deutschland ein neues Leben zu beginnen.

Sie kommen zunächst nach Karlsruhe. 20 Tage sind sie dort in einer Flüchtlingsunterkunft untergebracht. Hier besorgt sich Sahar auch eine neue Handy SIM Karte. Kann so ihren Vater, der mit ihrer älteren Schwester in Aleppo geblieben ist, fortan kontaktieren und berichten.

Von Karlsruhe aus geht es weiter nach Freiburg, der Stadt, der sie zugeteilt wird. 2 Monate lebt sie hier in einem 15 Quadratmeter großen Container. Nicht einfach, wenn man zu dritt ist. Gemeinschaftstoiletten und Gemeinschaftsduschen, Kälte und Erkältungen. Husten. Fieber. Doch auch das überstehen sie. Und sie bleiben nicht untätig. Beginnen sofort, deutsch zu lernen. Vor allem Sahar lernt wie besessen und das – autodidaktisch.

Integration

Dieser ersten Unterkunft folgt eine zweite Unterkunft in der Wiesentalstraße. Wieder Container. Wieder 15 Quadratmeter. Hier bleiben die syrischen Frauen 4 Monate. In der Zeit beginnt Sahar bereits als Dolmetscherin in der Flüchtlingsunterkunft zu arbeiten, sich für andere einzusetzen. Sie hilft bei Behördengängen und Arztbesuchen, arbeitet ehrenamtlich in der Diakonie und hilft wo sie nur kann. Gleichzeitig kümmert sie sich aber auch um ihr eigenes Vorankommen. Sie hat Ziele. Und eines lautet Masterstudium in Deutschland.

Ihr Studium der Materialwissenschaften konnte sie in Aleppo glücklicherweise abschließen. Es wird ihr hier in Deutschland anerkannt. Nun soll ein Studienplatz in Furtwangen folgen. Am liebsten würde sie in die Medizintechnik gehen. Und so organisiert sie sich ein 4-wöchiges Praktikum in meiner Firma, wo sich der Kreis schließt. Denn hier habe ich Sahar kennengelernt. Wissbegierig, hochmotoviert, engagiert. Sie spricht inzwischen hervorragend Deutsch, ist auch des Englischen und Französischen mächtig. Sie hat eine schnelle Auffassungsgabe. Und ein motivierendes, freundliches Lächeln.

Während sie mir auf der Parkbank in der Sonne gegenübersitzt und mir ihre Geschichte erzählt – lächelt sie immer wieder. Allem Erlebten zum Trotz. Doch es gibt auch ernste Momente. Momente, in denen ich sehe, dass sie harte Zeiten hinter sich hat. Momente wie diesen, als sie mir von dem Alptraum auf dem Schlauchboot erzählt. Mich anschaut und fragt, wie Menschen so etwas tun können? Schließlich wären wir doch alle Menschen. Niemand kann etwas für Krieg. Sie hat sich diese Situation auch nicht ausgesucht. Aber davon abgesehen – wie können Menschen nur so etwas tun??

Auch ich bin noch immer dabei, das zu verarbeiten. Bin fassungslos. Ein Boot voller Menschen. Frauen, Kinder. Ein Baby. Und jemand, der sich Polizist – in welchem Land auch immer – nennt, versucht das Boot dieser Menschen zum Kentern zu bringen und nimmt ihren Tod billigend in Kauf?

Sprachlosigkeit.

Wie zum Teufel können Menschen anderen Menschen auf der Flucht so etwas antun? Menschen, die sowieso schon fast alles verloren haben. Menschlichkeit ist anders. Das ist so unfassbar traurig. Ich möchte gar nicht drüber nachdenken, wie viele Menschen auf der Flucht vor dem Krieg letztlich durch so etwas ums Leben gekommen sind. So schrecklich. So traurig. So unfassbar.

Aleppo vor und nach dem Krieg

Aleppo vor und nach dem Krieg | â’¸ olympia.gr

Wir unterhalten uns noch eine ganze Weile weiter. Ihre Augen leuchten, als sie mir erzählt, dass sie nach 4 Monaten in der Wiesentalstraße mithilfe einer ehrenamtlichen Helferin eine kleine, 45 Quadratmeter große Wohnung gefunden hat. Um diese zu finanzieren, griff der Familie die Helferin auch finanziell unter die Arme. Doch dieses Geschenk anzunehmen, kam für die 3 starken syrischen Frauen nicht in Frage. Sie wollten selbst für ihr Leben sorgen und so vereinbarten sie die Rückzahlung des Geldes in wenigen Raten, die längst beglichen sind. Sahar erzählt mir, dass ihr und auch ihrer Mutter es sehr schwer fällt, solche Hilfen anzunehmen. Sie möchten nichts geschenkt bekommen. Sie möchten für ihr Leben, für ihren Unterhalt arbeiten. Das sei für sie das Normalste der Welt. Und keine Frage, das werden sie. Das spüre ich in jedem ihrer Sätze. Sahar ist stark. Und sie wird ihren Weg gehen. Dafür tut sie alles in ihrer Macht stehende.

Das Leben in Deutschland

Ich frage sie, was sie in Deutschland „komisch“ oder „ungewöhnlich“ findet. Zu meiner Überraschung antwortet sie sofort „Hunde als Haustiere“. Denn aus Syrien kennt sie Hunde als Kampf- und Verteidigungsmittel. Sich an die vielen, hier doch friedlichen Vierbeiner zu gewöhnen, sei gar nicht so einfach.

Wo sie Unterschiede zwischen hier und ihrer alten Heimat sähe, frage ich. Sie antwortet: „In der Ordnung“. Hier in Deutschland sei alles geregelt. Ampeln für Fußgänger zum Beispiel. Behörden. Anstellen, Einreihen und Nummern ziehen. Bewerbungsgespräche und telefonische Interviews. Verrückt. In Syrien war das Leben (vor dem Krieg) viel einfacher, lockerer, aber auch chaotischer.

Ein weiterer großer Unterschied ist der Bezug zur Familie und Freunden. In Syrien kocht man nicht nur für sich. Man lädt die Nachbarn mit ein. Familie steht immer im Mittelpunkt. Den Freitag, dem Wochenende in dem muslimischen Land, verbringt man im Allgemeinen Generationen übergreifend zusammen.

Hier in Deutschland Freunde zu finden, sei schwieriger. Viele ehrenamtliche Helfer sind schon älter. Der Umgang zwischen den Menschen hier in Deutschland ist eher distanzierter.

Jemand so beeindruckendes wie Sahar ist mir selten begegnet. Nachdrücklich und mit Feuer in den Augen sagt sie mir, sie werde niemals aufgeben. Äußert, dass das, was sie sagt, dass sie es macht, sie dann auch durchzieht. Und das glaube ich ihr aufs Wort. Ein starker Willen. Eine starke Frau. Und das mit 25. Sie trotzt dem Leben ab, was sie braucht und nimmt ihr Schicksal jeden Tag in die eigenen Hände. Sie integriert sich, spornt andere an, das Gleiche zu tun. Die Sprache ist der Schlüssel zur Integration. Das hat sie früh erkannt.

Auf die Frage, wie Integration aus ihrer Sicht am besten gelingen kann, antwortet sie: „Mit Hilfe zur Selbsthilfe. Mit Willen. Mit dem Miteinander“.

Und dem kann ich kaum etwas hinzufügen. Denn dass sie damit Recht hat, zeigt sie am eigenen Beispiel am besten.

Sahar fühlt sich inzwischen wohl in Deutschland. Ist hier angekommen und sieht hier ihre Zukunft. In Syrien und dem gesamten Nahen Osten sieht sie diese Zukunft nicht. Zu lange schon gibt es dort Krieg – angefangen im Irak im Jahr 2003. Die Bedrohung durch den IS. Die zerstörte Infrastruktur. Sie zeigt mir Bilder aus Aleppo. Bilder von vor dem Krieg. Bilder einer schönen und großen Stadt mit 5 Millionen Einwohnern und prächtigen Bauten, Moscheen und Kirchen. Sie erzählt mir vom friedlichen Zusammenleben zwischen den Religionen und Menschen. Dann zeigt sie mir Bilder aus dem Krieg. Bilder von Zerstörung. Von dem, was übrig ist. Perspektive ist anders.

Ich hoffe sehr, dass Sahars Asylantrag im Laufe des Jahres genehmigt wird. Im Moment hat sie nur eine Schutz-Zusage, die es ihr gestattet, bis November zu bleiben. Aufgrund dessen greift auch der Familiennachzug ihres Vaters nicht. Er lebt noch immer in Aleppo. Lebt in der teilzerstörten Wohnung oder im Keller – je nach Gefahrensituation. Sie vermisst ihn.

Sie zeigt mir weitere Fotos. Fotos aus dem Studium, Fotos ihrer Familie. Und ich hoffe inständig, dass es bald wieder ein vereintes Familienfoto geben wird.

Dass Sahar ihren Weg hier in Deutschland machen wird, davon bin ich überzeugt. Viele Deutschen könnten sich von ihr eine Scheibe abschneiden. Oder auch zwei. Sie will nichts geschenkt bekommen, verrät mir, dass sie – obwohl sie eine Badewanne in ihrer neuen Wohnung hat – nicht baden kann, weil das schade um das Wasser wäre. Monatelang lief sie in Aleppo jeden Tag 10 Kilometer, um überhaupt an Wasser zu kommen. Zum Trinken, zum Waschen, zum Leben. Und hier nun einfach eine Badewanne voll verschwenden? Das käme ihr nicht richtig vor.

Ich bin dankbar und stolz, dass ich Sahar kennenlernen durfte. Sie erzählt mir kurz vor Abschluss unseres Gespräches, dass sie es schwer findet, in Deutschland Freunde zu finden. Ich würde mich freuen, wenn sich zwischen uns eine Freundschaft entwickeln würde. Denn Sahar ist eine unglaublich beeindruckende, starke, junge Frau. Sie zeigt, wie Integration funktionieren kann. Sie zeigt, wie unglaublich dumm viele der Vorurteile sind, die manche Menschen gegen Flüchtlinge haben.

Menschen wie Sahar in Deutschland begrüßen zu dürfen, ist einfach nur großartig! Sie bereichern unser Land!

Abschließende Worte

Liebe Sahar, ich wünsche dir alles Gute hier in unserem Land. Mach deine Träume war. Bleib weiter so stark. Ich hoffe sehr, wir bleiben in Kontakt. Wenn du magst, lade ich dich gern mal auf eine Kartoffelsuppe ein.

Denn diese, so verriet sie mir, mag sie hier in Deutschland besonders gern.

Ich danke dir, dass du mich an deiner Geschichte teilhaben lassen hast und dass ich sie erzählten durfte.

Schließen möchte ich diesen Artikel gern mit ein paar Sätzen, die Sahar zu mir sagte, als wir uns über Religion unterhalten haben.

„Niemand hat das Recht, einem anderen Menschen seine Seele zu nehmen. Wir alle sind Menschen. Wir alle sind gleich vor Gott.“